Sirens Call
© GossingSieckmann / filmfaust / Kochmann
Sirens Call
„Sirens Call“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt / Kritik

Una (Gina Rønning) sieht sich selbst als Hybridwesen – weder ganz Mensch noch ganz Fisch. Sie begibt sich auf eine Reise quer durch die USA, von New York über Las Vegas und Florida bis nach Portland. Ihre Überzeugung nach war sie bereits einmal auf dieser Erde, zu einer Zeit, als das Volk der Meerjungfrauen und die Bewohner von Atlantis in Eintracht mit den Menschen lebten. Doch während sie nun die menschliche Gesellschaft studiert, fühlt sie sich zunehmend verloren – bis sie in Florida auf Moth (Moth Rønning-Bötel) trifft, eine Gleichgesinnte. Gemeinsam reisen sie weiter in den Nordwesten der USA, und erst in Portland, Oregon findet Una schließlich Menschen, die ihre Weltanschauung teilen. Dennoch bleibt die Frage nach ihrer Identität bestehen, und so führt sie ihre Suche weiter – zurück zu ihren menschlichen Wurzeln und nach Hawaii, wo sie aufgewachsen ist.

Die Realität ist, was wir daraus machen

Eine Meerjungfrau auf der Suche nach sich selbst – das klingt zunächst wie die Prämisse eines Fantasyfilms. Doch Sirens Call, das Langfilmdebüt der deutschen Regisseurinnen Miri Ian Gossing und Lina Sieckmann, das auf der Berlinale 2025 in der Sektion Forum seine Weltpremiere feierte, ist alles andere als ein Fantasyfilm a la Arielle, die Meerjungfrau. Der Film bewegt sich geschickt zwischen Fiktion und Dokumentation und erforscht mit einer hybriden Erzählweise die Grenzen zwischen Selbstwahrnehmung, Mythologie und Realität. Der Film beginnt als Roadmovie, nimmt in der Mitte dokumentarische Züge an und kehrt am Ende wieder zur Fiktion zurück. Eine Struktur, die sich auch in der Hauptfigur spiegelt: Una ist in Wahrheit Gina Rønning, eine promovierte Psychologin, die sich seit Jahren als Meerjungfrau definiert. In dieser Identität hat sie einen Weg gefunden, sich selbst zu verstehen und ihre imaginierte Welt mit der realen zu verbinden. Ihr zentraler Gedanke: „Die reale Welt ist nur das, was wir daraus machen. Wir sollten uns fragen, in wessen Bild der realen Welt wir leben.“ Der Film greift diesen Ansatz auf, indem er dokumentarische und fiktionale Elemente verschmilzt und so mit der Wahrnehmung des Publikums spielt.

Man beginnt als Zuschauer erst so richtig zu begreifen, dass man sich in einer Art Dokumentation befindet, wenn man das Portland Merfolk, einer Gemeinschaft von Menschen, die sich als Meerwesen verstehen, kennenlernt. In Interviews erklären sie, was diese Identität für sie bedeutet und wie sie ihr Leben beeinflusst. Auch Rønning, die eine Art Anführerin des Portland Merfolk ist, hat mit realen Herausforderungen zu kämpfen: Sie leidet am Sjögren-Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die extreme Trockenheit der Schleimhäute verursacht. „Ich trockne von innen aus“, sagt sie – entweder eine beunruhigende Parallele oder der Grund zu ihrer Selbstwahrnehmung als Meerwesen fernab des Wassers.

Zwischen Inszenierung und Dokumentation

Formal wagt Sirens Call ein Experiment. Immer wieder sind Fragen der Regisseurinnen aus dem Off zu hören, die Kamera von Christian Kochmann fängt das Filmteam selbst auch mal selbst ein, die Grenze zwischen Inszenierung und spontaner Dokumentation verschwimmt. Der Film mäandert dabei zwischen Genres – mal Science-Fiction, mal Roadmovie, mal dokumentarisches Porträt. Gerade diese Unschärfe macht ihn faszinierend, kann aber auch als Herausforderung empfunden werden. Einige Sequenzen ziehen sich, und das narrative Fließen gerät ins Stocken. Doch durch die außergewöhnliche Hauptfigur bleibt Sirens Call ein fesselndes Erlebnis.

Es wäre einfach, Una und die Mitglieder des Merfolk als Exzentriker abzutun. Doch ihre Zerrissenheit ist echt, ihre Fragen an die Welt berechtigt. Sie suchen nach Antworten – sei es in Mythen oder Körpermodifikationen, durch die sie sich ihrem idealisierten Bild annähern wollen. Hinter dieser Suche steckt auch ein Umweltbewusstsein: Sie wissen, dass es der Erde schlecht geht, und ihre Fantasiewelten sind vielleicht nur der erste Schritt, um alternative Lebensentwürfe zu erproben. Sirens Call verlangt Offenheit vom Publikum. Wer sich auf das hybride Konzept einlässt, wird mit einer außergewöhnlichen Reise belohnt – eine Reise, die das Verhältnis von Vorstellung und Wirklichkeit hinterfragt. Am Ende drängt es einem ins Bewusstsein, dass an Unas These etwas dran sein könnte: “Wir alle sind nur eine Figur in einem Drehbuch, nur wenige von uns können ihre eigene Geschichte schreiben.”



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Sirens Call
fazit
"Sirens Call” ist ein Hybridwerk, das geschickt zwischen Fiktion und Dokumentation oszilliert und die Grenzen zwischen Selbstwahrnehmung, Mythologie und Realität auslotet. Die ungewöhnliche Reise von Una alias Gina Rønning ist eine Reflexion über Identität, Zugehörigkeit und alternative Lebensentwürfe. Man muss sich jedoch auf das experimentelle Konzept einlassen wollen
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