
35 Jahre arbeitete Lillia (Tess Magallanes) im Haus einer vermögenden italienischen Dame, bis diese als Folge einer Corona-Erkrankung starb und ihr das gesamte Vermögen sowie ihre Villa vererbte. Nach Jahren der Trennung besuchen sie ihre Geschwister Rosa (Jenny Llanto Carnigal) und Manny (Benjamin Vasquez Barcellano Jr.), die wie Lillia einst nach Italien kamen, um dort eine Arbeit zu finden und jeden Monat etwas Geld an ihre Familie in den Philippinen zu senden. Die ersten Stunden sind erfüllt von der Wiedersehensfreude sowie der Erinnerungen, die sie gegenseitig austauschen. Dann kommt es aber zu Spannungen, denn im Gegensatz zu ihrer großen Schwester hatten Manny und Rosa wenig Glück, eine feste Stelle in Italien zu finden. Sie wollen zurückkehren in ihre Heimat und ihre Schwester dazu bringen, das Haus zu verkaufen, damit sie mit dem Geld ohne Sorgen auf den Philippinen leben können. Lillia hingegen will nicht verkaufen, sodass es zu Streitigkeiten zwischen den Geschwistern kommt.
Die philippinische Erfahrung
In einem Statement zu seinem neuen Film Where the Night Stands Still erklärt der philippinische Regisseur Liryc Dela Cruz, dass dieser eine Erfahrung abbilde, die vieler seines Landsleute teilen. Die lange Geschichte des Landes, geprägt von Kolonisation, Migration und Überleben, spiegelt sich in den drei Hauptfiguren des Filmes wieder, sagt er. Somit ist Where the Night Stand Still, welcher derzeit auf der Berlinale zu sehen ist, eine Geschichte über Aspekte wie Heimat und Identität angesichts der Realität einer Kultur, deren Angehörige aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Gründe in Europa und vielen anderen Kontinenten verstreut sind. Trotz dieser Zerstreuung oder der sporadischen Erfolgsgeschichten verlässt der Eindruck dieser langen, problematischen Geschichte nicht die kollektive Erinnerung und hängt wie ein Damoklesschwert über den drei Charakteren des Films.
Dela Cruz’ Film beginnt mit einer vielsagenden Täuschung, die viel über die Wahrnehmung der Filipinos in unserer Gesellschaft verrät. Die langen Einstellungen zeigen den mühseligen Alltag Lillias, die dabei ist, die verschiedenen Räume des großzügigen Anwesen zu putzen. Sie tauscht sich kurz aus mit der Herrin des Hauses, wie es scheint, doch dies ist, wie wir schnell erfahren, mehr ein Selbstgespräch gewesen. Dass sie die Herrin des Hauses ist, der auch das Land drumherum gehören soll, ist selbst für ihre ankommenden Geschwister zu viel des Guten und wird mit ungläubigen, erstaunten Blicken quittiert. Die Wahrnehmung der Filipino als Bedienstete ist ein gewohnter Anblick, sodass eine Erfolgsgeschichte wie die Lillias mehr die Ausnahme als die Regel ist.
Dela Cruz spielt wiederholt mit dieser Wahrnehmung, beispielsweise wenn er in langen Einstellungen die Figuren begleitet, wie sie das Anwesen durchschreiten oder wie sie draußen im Garten zu Mittag essen. Immer wirken sie wie Fremdkörper und nehmen sich selbst, mit Ausnahme Lillias, auch als solche war. Ihr große Schwester passt nicht mehr in das Narrativ der Filipinos in Europa und ist ausgestiegen aus einer Routine von Jobs im Dienstleistungssektor oder als Illegale, in denen man gerade so über die Runden kommt. Die neue Realität, in der ihre große Schwester lebt, ist der Beginn einer Auseinandersetzung mit der Vision des Lebens, das sich die drei vorgestellt hatten, als sie ihre Heimat verließen und der Blick in den Spiegel ist nicht unbedingt erfreulich.
Erinnerungen an das Land, das nicht uns gehört
In Where the Night Stands Still prallen zwei neue Visionen der Zukunft aufeinander. Wenn Lillia davon spricht, in dem großzügigen Garten Früchte und Obst aus ihrer Heimat anzupflanzen, formuliert sie vorsichtig einer Zukunft, in der vielleicht die Familie hier leben könnte. Rosa und Manny hingegen wollen raus aus diesem Land, das nie ihr Freund war, und mit dem Geld in Richtung Heimat gehen. In seinem Drehbuch spielt Dela Cruz immer wieder mit der Dynamik seiner drei Figuren, dem Konfliktpotenzial dieser beiden Vorstellungen, wie es weitergehen soll.
Hinzu kommen zahlreiche subtile Verweise auf die Geschichte des Landes, das die drei verlassen haben, aber immer noch in ihnen steckt, wie beispielsweise die Idee eines Landes, „das ihnen nie gehört habe“, was eine der vielen Doppeldeutigkeiten in den Dialogen ist. Es ist richtig, dass sie sowohl Sklaven hier wie auch in der Heimat gewesen sind, wie Manny sagt, doch nun ist ein Moment des Stillstands gekommen, an dem es zu entscheiden gilt, wie man weitermacht und ob dies als Familie geschieht.
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