Xoftex
© Port au Prince Pictures / Noaz Deshe
Xoftex
„Xoftex“ // Deutschland-Start: 17. April 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Nach einer traumatischen Flucht über das Mittelmeer landen die Brüder Nasser (Abdulrahman Diab) und Yassin (Osama Hafiry) im griechischen Lager „Xoftex“. Hier warten sie, ob ihre Asylanträge bewilligt werden, eingesperrt in ein ehemaliges Industriegelände, umgeben von Stacheldrahtzäunen. Das kann dauern, wie der Spielfilm mit dokumentarischem Hintergrund gleich zu Beginn auf Schrifttafeln erklärt. Nämlich zwölf bis 18 Monate. Die endlos langen und immer gleichen Tage vertreibt sich Nasser, mit 17 der jüngere der beiden Brüder, durch Rollenspiele und kleine Filmchen, die er mit dem Handy dreht. Doch auch Humor, Fantasie und Kreativität können nicht verhindern, dass die Ungewissheit auf die Seele drückt im experimentellen, zunehmend surrealistischen Drama, das auf realen Erlebnissen und Begebenheiten beruht.

Schweiz als Sehnsuchtsort

In welches Land möchte man weiterreisen? Das ist Thema der ironisch-verspielten Befragungen, die die Männer und Frauen – meist aus Syrien oder Palästina stammend – abends im Feuerschein auf dem Campgelände veranstalten. Was, du willst in die Schweiz? fragt Nasser, der in die Rolle des Verhörenden geschlüpft ist. Ja, gibt der Asylsuchende zurück, „meine ganze Kindheit lang habe ich Käseherstellung und Uhrmacherei studiert“. Nasser grinst über den Witz, bleibt aber hart. Alle glaubten, in Europa würden die Menschenrechte respektiert, doch das stimme nicht. Als fiktiver Asylbeamter schickt er den Heimatlosen stattdessen nach Kanada. Ein paar Filmminuten später hat die Realität den jungen Nasser wieder fest im Griff. Auf dem langen, gespenstischen Flur zum Zimmer seiner ersten offiziellen Asylbefragung wird dem 17-Jährigen schwindlig. Die Kamera kippt, fährt an Details der Decke entlang, taucht in gleißendes Licht. Solch unterschiedliche Elemente verschmilzt der Film zu einem hybriden Horrortrip: harsche Realität, fantasievolle Bewältigungsversuche und das Abdriften in seelische Abgründe, bis hin an den Rand des Wahns.

Regisseur Noaz Deshe (White Shadow, 2013) weiß, wie sich die Lage der Geflüchteten anfühlt. Er hat nicht nur als Freiwilliger bei der Seenotrettung mitgeholfen, sondern auch die Lager von innen gesehen. Für Hilfsorganisationen organisierte er, unter anderem in Xoftex, Theater-Workshops. Auf solch künstlerische Bewältigungsstrategien greift auch der Film zurück. Gemeinsam mit Laiendarstellern, von denen die meisten selbst fliehen mussten, wurden die „echten“ Theaterszenen nachinszeniert – und die Filmdialoge den Rückmeldungen der Betroffenen angepasst. Noaz Deshes Drama zeigt die Geflüchteten also nicht als Opfer (wie so oft in anderen Flüchtlingsdramen), sondern gibt ihnen eine Stimme.

Mehr noch: Der Film schlüpft quasi in die Seelen und Köpfe der Wartenden. Er lässt das Publikum miterleben, was es mit einem macht, monatelang in Ungewissheit eingesperrt zu sein, ohne die Möglichkeit, dem Alltag eine wie auch immer prekäre Struktur zu geben. Daher ist es kein Zufall, dass sich Nassers kurze Handyfilme von komödienhaften Mockumentarys („Xoftex TV“) in ein Genreprojekt über Zombies wandeln. Lebende Tote, das sind sie hier, in der Realität genau wie in der Fiktion. Vor allem Nasser fühlt sich so, dessen Fantasiebegabung mit Verletzlichkeit einhergeht. Sein deutlich älterer Bruder Yassin dagegen wirkt pragmatischer. Auch das führt zu Spannungen, wie überhaupt das Lagerleben geprägt ist von solchen, die bereits durchdrehen, und jenen, die noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft hegen.

Eskapistische Bedürfnisse

Die visuelle Strategie des Films widmet sich dabei ganz den Emotionen, Sehnsüchten und eskapistischen Bedürfnissen Nassers. Schon bald verschwimmen die Grenzen zwischen Realität, (Alp)träumen, Erinnerungsflashs, inszenierten Gegenwelten und surrealen Fantasien. So jedenfalls nimmt der junge Protagonist seine Umgebung wahr, in dessen Perspektive und zerbröselnde mentale Orientierung wir als Publikum eintauchen. Das führt dazu, dass wir auch selbst den Überblick verlieren. Eine Handlung oder Entwicklung ist nicht in Sicht, außer die des zunehmenden Verlustes der seelischen Gesundheit. Das ist eine verstörende Erfahrung und eine experimentelle Bereicherung der üblichen Sozialdrama-Muster. Doch das – durchaus unangenehme – Seherlebnis führt zu keinem Erkenntnisgewinn. Dass gefängnisähnliche Flüchtlingslager gegen die Menschenwürde verstoßen, dürfte das Zielpublikum des Films schon vor dem Kinobesuch gewusst haben.

Das ist schade, denn Noaz Deshes Ansatz, den Geflüchteten mit ungewöhnlichen filmischen Mitteln eine Stimme zu geben, klingt eigentlich vielversprechend. Doch es genügt der Vergleich mit einem Film wie Gagarin – Einmal schwerelos und zurück (2020) von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh, um sich die gelungenere experimentelle Form eines Sozialdramas vor Augen zu führen. Auch hier steht ein benachteiligter Jugendlicher im Zentrum der Handlung, die sich um Gentrifizierung und die Vertreibung von Sozialwohnungsmietern dreht. Und auch hier entflieht ein junger Mann der Realität, indem er sich in eine Art Science-Fiction-Kosmos mit Raumschiffen und Astronauten zurückzieht. Aber das führt nicht zu einer Desorientierung des Publikums selbst, sondern zu einer jederzeit nachvollziehbaren, zutiefst humanen Botschaft: Dass nämlich das Abtauchen in imaginäre Welten nicht ins Seelenchaos führen muss. Sondern die Widerstandskraft im Realen durchaus stärken kann.