Die Schattenjäger Les Fantômes Ghost Trail
Szenenbild aus Jonathan Millers Thrillerdrama "Die Schattenjäger" über eine geheime Exil-Zelle, die Kriegsverbrecher sucht. (© Les Films Grand Huit)

Jonathan Millet [Interview]

Regisseur Jonathan Millet (© Diva Liveu)

Die Schattenjäger erzählt die Geschichte des syrischen Literaturdozenten Hamid (Adam Bessa), der von dem Regime gefoltert wurde, seine Familie verloren hat und nach Europa geflohen ist. Dort trifft er Menschen, denen es ähnlich geht und die gemeinsam eine geheime Zelle bilden. Das Ziel: syrische Kriegsverbrecher, die ebenfalls das Land verlassen haben, ausfindig zu machen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Für Hamid wird dies zu einer Lebensaufgabe, vor allem, als er meint, den Mann gefunden zu haben, der ihn gefoltert hat. Die Sache hat jedoch einen Haken: Er hat den Peiniger nie getroffen. Anlässlich des Kinostarts am 13. März 2025 haben wir uns mit Regisseur und Drehbuchautor Jonathan Millet unterhalten. Im Interview sprechen wir über die Arbeit an dem Thrillerdrama, Traumata und die Möglichkeiten des Kinos.

Könntest du uns etwas über die Entstehungsgeschichte deines Films verraten? Wie bist du auf die Idee für Die Schattenjäger gekommen?

Ich habe vorher mehrere Dokumentarfilme gedreht und mich dabei unter anderem auch mit Menschen befasst, die im Exil leben. Mit Die Schattenjäger habe ich jetzt meinen ersten Spielfilm gedreht. Ich wollte einen Film zum Thema Trauma machen. Über Menschen, die etwas in sich tragen, nachdem sie schreckliche Erfahrungen gemacht haben. Natürlich ist es etwas anderes, wenn du vor einem Krieg geflohen bist, das kannst du mit nichts vergleichen. Und doch sind Traumata etwas Universelles. Wir alle machen irgendwann einmal traumatische Erfahrungen und müssen nach einem Weg suchen, wie wir mit diesen umgehen. Also habe ich mich mit Kriegsflüchtlingen getroffen, zwei Jahre lang, vor allem welchen aus Syrien, weil 2015/2016 sehr viele nach Frankreich und Deutschland gekommen waren. Dabei habe ich gelernt, wie es ist, mit seinem solch schweren Gewicht in dir zu leben. Die Menschen könnten hier prinzipiell ein neues Leben anfangen, so sie in Sicherheit sind. Aber die Vergangenheit haben sie immer dabei und können ihr nicht entkommen. Nachdem ich viel Zeit mit diesen Menschen verbracht habe, haben sie mir die unglaubliche Geschichte von den geheimen Zellen erzählt, die nach Kriegsverbrechern suchen. Die Geschichte war so riesig und beinhaltete so viele Themen, dass mir klar war: Ich muss das erzählen!

Aber warum daraus einen fiktionalen Film machen anstatt wieder einen Dokumentarfilm? Du hättest ja auch etwas mit den Menschen machen können, die du getroffen hast.

Das stimmt. Aber ich konnte das Material auch in einem fiktionalen Film verwenden. Viele der Aussagen in Die Schattenjäger basieren direkt auf dem, was man mir erzählt hat. Teilweise ist das Wort für Wort. Ich wusste also, dass ich mit einem fiktionalen Film ebenso nah an der Realität sein kann wie mit einem dokumentarischen. Ein fiktionaler Film gibt mir aber zusätzlich die Möglichkeit, dieses Erlebte in der Gegenwart fühlbar und greifbar zu machen. Anstatt einfach von der Vergangenheit zu hören, sind die Zuschauer und Zuschauerinnen hier mittendrin. Ich wollte keinen Film drehen, der danach spielt, weil dich eine Nacherzählung nicht vergleichbar packt. Hier bist du richtig dabei, bekommst all die Gefühle mit, die Zweifel, tauchst ein in diese Welt, anstatt sie nur aus zweiter Hand präsentiert zu bekommen. Du identifizierst dich viel mehr und fühlst eine Verbindung. Das sind schließlich alles ganz gewöhnliche Menschen. Du hast einen Lehrer, einen Taxifahrer, einen Anwalt – alles Leute, die keine Erfahrung damit haben, in einer solchen Zelle zu sein, und sich deshalb nicht sicher sind, ob sie das Richtige tun. Und ich wollte, dass das Publikum das hautnah miterlebt.

War es denn schwierig für dich, dieses Material in einen fiktionalen Film zu verwandeln?

Die größte Schwierigkeit war sicher, das Material so zu kürzen, dass es in einen Film passt. Da waren so viele Geschichten, so viele Themen, das wäre einfach nicht gegangen. Das Publikum wäre damit so überlastet gewesen, dass es sich an nichts erinnert. Ich musste also aussuchen, was ich davon verwende und was nicht.  Am Ende waren es nicht einmal fünf Prozent des Materials!

Und wie lange hat es gedauert, bis du dann alles für den Film zusammen hattest?

Lange. Es waren bestimmt sechs Jahre von den ersten Recherchen bis zum Drehbeginn. Wobei die Hälfte der Zeit für die Recherchen draufging und die Hälfte für das Schreiben des Drehbuchs.

Lass uns ein wenig über das Genre deines Films sprechen. Die Schattenjäger vereint gleich mehrere. Du hast den Spionagethriller über Menschen, die geheimen Aktivitäten nachgehen. Du hast einen Paranoiathriller, wenn dein Protagonist den Verstand verliert und nicht mehr weiß, was real ist und was nicht. Gleichzeitig geht es um Menschen, die so traumatisiert sind, dass sie nicht mehr den Weg ins Leben finden, was dann ein Drama ist. Warum hast du eine solche Genremischung gedreht?

Die ganzen Genres, die du beschreibst, waren alle schon im ursprünglichen Material drin. Diese Zellen gibt es ja wirklich. Die sind in Kassel wirklich neun Monate lang einem Mann gefolgt, um sicherzustellen, ob er der gesuchte Kriegsverbrecher ist. Der Spionagethriller hat sich also aus der Geschichte ergeben. Gleichzeitig waren mir die Figuren sehr wichtig. Ich wollte keinen Spionagethriller mit Verfolgungsjagden und großen Explosionen, sondern mich auf den Charakter konzentrieren und zeigen, was in ihm vorgeht. Ich musste meinen eigenen Weg finden, wie ich diese Geschichte erzählen kann, und dabei auch die Einsamkeit und die Besessenheit des Protagonisten aufzeigen. Denn Einsamkeit ist ein wichtiges Thema bei all den Menschen, die im Exil leben.

Kannst du dich mit dieser Besessenheit identifizieren? Schließlich hast du dich jahrelang mit ein und demselben Thema befasst, was auch eine Art Besessenheit darstellt.

Oh, absolut! Ich kann mich mit dieser Besessenheit identifizieren. Ich kann mich aber auch damit identifizieren, wie es ist, in einem Exil zu sein. Für meine Dokumentarfilme war ich auch lange im Ausland, an fremden Orten, wo ich niemanden kannte und die Sprache nicht sprach. Natürlich ist das nicht vergleichbar mit jemandem, der vor einem Krieg geflohen ist. Bei mir war das alles eine freie Entscheidung. Aber zumindest in Ansätzen kann ich glaube ich fühlen, wie einsam das sein muss.

Und wie sieht es jetzt mit dieser Besessenheit aus? Konntest du das Thema hinter dir lassen oder ist es dir geblieben?

Ich mag die Idee, dass du immer denselben Film machst, aber jedes Mal auf eine unterschiedliche Weise. Beispielsweise haben ich keine Lust, noch einen Film über das Thema Exil zu drehen, das hatte ich schon mehrfach und ich glaube, ich habe alles dazu gesagt. Die Beschäftigung mit einem Trauma, mit den Sachen, die in dir sind tief verborgen, das ist aber etwas Universelles. Filme sind eine gute Möglichkeit, einzutauchen und das aufzudecken, was in den Figuren ist. Das wird also sicher etwas sein, das bei mir bleibt.

Kommen wir zu der Zelle. Ist es eigentlich gut, deiner Ansicht nach, wenn Menschen nach Kriegsverbrechern suchen, damit sie bestraft werden? Ein bisschen ambivalent ist das ja schon, was du beschreibst.

Das stimmt. Ich mag es, dass das Publikum da seine eigenen Meinungen bilden kann. Wenn du aber zurückdenkst, wie das alles angefangen hat, wie Assad die Bürger und Bürgerinnen bombardiert hat: Viele Länder überlegten damals, ob sie irgendwie eingreifen sollen. Als dann aber Russland sein Veto einlegte, passierte nichts. Die Menschen mussten also irgendwie selbst aktiv werden. Außerdem ist diese Suche nach den Kriegsverbrechern etwas, das ihnen Halt gibt. Etwas, das auch eine Verbindung schafft zu ihrer Heimat, die sie aufgeben mussten. Außerdem wollen sie ja keine Selbstjustiz, zumindest nicht am Anfang. Sie wollen die gesammelten Informationen an die Medien geben, an die Polizei, damit für Gerechtigkeit gesorgt wird. Schwierig wird es aber natürlich, als es auch um die Frage geht, ob dieser Kriegsverbrecher getötet werden soll.

Wenn die Menschen darin Halt finden, ist das sicher etwas Positives. Beim Protagonisten geht es aber weiter, er ist vielmehr ein Gefangener, wenn für ihn außerhalb dieser Jagd nichts mehr existiert. Ist das dann noch gut?

Ich denke, dass das in gewisser Weise sein Prozess ist. Wenn wir Hamid am Anfang des Films in der Wüste kennenlernen, ist er halb tot, halb lebendig. Er hat alles verloren, da ist nichts mehr, das ihn am Leben erhält. Die Reise, die er danach antritt, führt in die Besessenheit und die Paranoia. Sie ist aber auch die Möglichkeit für ihn, sich seiner eigenen Identität zu stellen und sich selbst wiederzufinden. Die Begegnung mit dem Verbrecher bedeutet für ihn auch, sich dem Verlust seiner Tochter und seiner Frau zu stellen. Aber es ist ein langer Prozess.

Kommen wir zum Publikum. Was erhoffst du dir, dass das Publikum aus dem Film für sich mitnimmt?

Zuerst einmal hoffe ich, dass es wirklich in diesen Film eintaucht und diese Gefühle erlebt, das Trauma und die Paranoia. Filme geben dir die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren und dich vielleicht auch mit jemandem zu identifizieren, der ganz anders aussieht und ein ganz anderes Leben führt. Du wirst zu jemandem anderem in dieser Zeit. Und auch wenn der Film danach vorbei ist, behältst du einen Teil davon für dich zurück. Ich hoffe, dass die Zuschauer durch Die Schattenjäger eine andere Perspektive gewinnen und mehr verstehen von dem, was da in der Welt vor sich geht. Natürlich reicht ein Film nicht aus, um den gesamten geopolitischen Komplex zu verstehen. Aber es ist ein Anfang.

Etwas ganz anderes: Ich habe gelesen, dass du früher Philosophie studiert hast. Wie hat dich das bei deiner Arbeit als Regisseur geprägt?

Wenn du dich mit Philosophie beschäftigst, dann lernst du, Fragen zu stellen. Du bleibst nicht stehen, sondern fängst an, die Welt immer wieder neu anzusehen und zu hinterfragen und vielleicht auch andere miteinzubeziehen. Philosophieren heißt nicht, Recht haben zu wollen, sondern offen zu sein für neue Erklärungen. Und das spiegelt sich sicher auch in meinen Filmen wieder, wenn ich immer wieder Fragen stelle und das Publikum einlade, über diese Fragen nachzudenken. Es geht mir nicht darum, Antworten auf diese Fragen zu geben. Es gibt keine perfekten Antworten auf diese Fragen. Wichtiger ist mir, diese anderen Perspektiven aufzuzeigen.

Und jetzt, wo du all diese Fragen gestellt hast, wie geht es für dich weiter? Was sind deine nächsten Projekte?

Wie ich vorhin gesagt habe, will ich mich auch weiterhin mit dem befassen, was in den Menschen vor sich geht. Dieses Mal soll es aber um das Unbewusste gehen, mein nächster Film soll von Träumen handeln.

Vielen Dank für das Interview!



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