
Zehn Jahre war Jérémie (Félix Kysyl) nicht mehr in seinem Heimatort Saint-Martial im Südosten Frankreichs gewesen. Nun ist er zurück, aus einem traurigen Anlass: Der Dorfbäcker Jean-Pierres, bei dem er als Jugendlicher in die Lehre gegangen war, ist gestorben, Jérémie will ihm die letzte Ehre erweisen. Während Martine (Catherine Frot), die Frau des Verstorbenen, froh ist über die Rückkehr und ihm sogar einen Platz zum Schlafen anbietet, ist Sohn Vincent (Jean-Baptiste Durand) weniger glücklich. Immer wieder kommt es zwischen den beiden zu Auseinandersetzungen, auch zu Gewalt. Doch es ist nicht nur Vincent, der heftig auf den Rückkehrer reagiert, auch bei anderen im Ort sorgt dessen Anwesenheit für emotionale Reaktionen …
Reise in die Vergangenheit
Es ist ein in Filmen immer wieder gern verwendetes Motiv: Jemand kehrt in seine alte Heimat zurück, nachdem dort jemand gestorben ist, und muss sich dann der Vergangenheit stellen. Manchester by the Sea, Im August in Osage County und Konsorten lassen grüßen. Meistens ist die tote Person dann egal, ist nicht mehr als ein Anlass für diese innere Auseinandersetzung, wenn alte Wunden versorgt und Verhältnisse geklärt werden müssen. Mit Misericordia kommt nun ein Film bei uns in die Kinos, der mit eben einem solchen Szenario arbeitet. Tatsächlich darf einem einiges bekannt vorkommen, wenn Jérémie auf einmal mit vielem konfrontiert wird, das lang vergraben war. Und doch würde man dem Werk kaum gerecht werden, wenn man es nur darauf reduziert. Dafür ist es letztendlich zu eigen.
Das fängt schon damit an, dass gar nicht ganz klar ist, welches Genre das hier überhaupt sein soll. Regisseur und Drehbuchautor Alain Guiraudie (Der Fremde am See, Nobody’s Hero) schert sich nicht wirklich darum, wo Grenzen sind. Und falls doch, macht es ihm sicherlich Spaß, diese zu überschreiten. So hat die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch etwas Gewalttätiges. Tatsächlich wird es im weiteren Verlauf von Misericordia auch ein Verbrechen geben. Zu rätseln gibt es dabei nichts, das Publikum darf selbst zusehen, wie es begangen wird. Zum Teil geht es darum, wie dieses vertuscht wird und parallel Ermittlungen angestrebt werden. Da steht also die Frage im Raum, ob das alles auffliegt. Und doch wird daraus kein spannungsgeladener Thriller, vor allem, weil Guiraudie eine Vorliebe für das Groteske hat.
Durchs Leben stolpern
Das gilt für den Film insgesamt. Von Anfang an verhalten sich die Figuren wenig „normal“, sind bewusst übertrieben, seltsam enthemmt und zugleich undurchdringlich. Das hängt auch damit zusammen, dass hier gelogen wird ohne Ende. Zumindest aber wird die Wahrheit nicht ausgesprochen. Das kann tragisch sein, wenn Jérémie seine Gefühle für den Verstorbenen nie ausleben konnte. Oder eben auch komisch, wenn in Misericordia plötzlich alle verrückt spielen. Ein bisschen erinnert das an Teorema und ähnlich gelagerte Werke. Während dort aber die neu hinzukommende Figur normalerweise gezielt manipuliert, kann man das von Jérémie kaum behaupten. Er stolpert vielmehr durch die Gegend und ist ziemlich oft überfordert mit allem, verhält sich teilweise auch sehr ungeschickt.
Der Genremix, der bei den Filmfestspielen von Cannes 2024 Weltpremiere hatte und anschließend auf mehreren Festivals zu sehen war, ist dabei insgesamt unterhaltsam. Er ist manchmal aber auch etwas anstrengend, wenn Guiraudie bewusst auf Erklärungen verzichtet, manchmal rätselhaft bleibt und die Figuren auch nervig sein können. Interessant ist es aber ohne Zweifel, was die europäische Coproduktion aus dem Stoff gemacht hat. Misericordia kombiniert Sinnlichkeit mit Denkfutter, hat viel zu menschlichem Verhalten und Schwächen zu sagen und wirkt doch fremd. Immer wieder wacht Jérémie aus Träumen auf, welche die Grenzen zwischen dem Erlebten und Ersehnten verschwinden lassen. Als Zuschauer bzw. Zuschauerin geht es einem da ganz ähnlich – nur dass es hierbei kein Erwachen gibt.
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