
Als sein Vater im Sterben liegt, macht sich der Mann auf eine Reise zu diesem, bevor es zu spät ist. Ziel ist ein Sanatorium, das am Rand eines Waldes liegt und wo der Vater schon seit Längerem lebt. Dabei muss er sich unterwegs mit vielem auseinandersetzen, wenn die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, zwischen Traum und Wirklichkeit und er dabei zunehmend in einem Labyrinth verlorengeht, von dem er selbst nicht weiß, ob es real ist.
Rückkehr zweier legendärer Brüder
2024 war das Jahr der großen Stop-Motion-Comebacks. So meldete sich Claude Barras acht Jahre nach seinem ersten Film mit seiner Ökofabel Savages zurück. Adam Elliot brachte 15 Jahre nach seinem gefeierten Debüt mit Memoiren einer Schnecke eine wunderbare Tragikomödie heraus, die für einen Oscar nominiert war. Letzteres trifft auch auf Wallace & Gromit: Vergeltung mit Flügeln zu, hier hatten Fans sogar 16 Jahre warten müssen, bis das kultige Duo erneut ein komisches Chaos durchleben musste. Während diese drei Titel ziemlich präsent waren, sei es bei Festivals oder auch Filmpreisen, ist ein anderes Comeback eher abseits der Öffentlichkeit geschehen. Zwar waren die Stop-Motion-Legenden Stephen und Timothy Quay, auch als Quay Brothers bekannt, in den letzten Jahren nicht untätig, drehten mehrere Kurzfilme. Sanatorium Under the Sign of the Hourglass war aber der erste Langfilm der beiden seit 19 Jahren.
Die Wartezeit hat sich gelohnt, gerade für ein Publikum, das sich an etwas anderen Animationsfilmen erfreut. Die Brüder mögen inzwischen 77 Jahre alt sein, ein Interesse an bekömmlichen Geschichten haben sie auch im fortgeschrittenen Rentenalter nicht entwickelt. Wobei schon die Vorlage, der gleichnamige Roman von Bruno Schulz aus dem Jahr 1937, keine leichte Kost war. Die darin enthaltenen poetischen Kurzgeschichten sind traumartig, Reflektionen über das Leben und den Tod. Sanatorium Under the Sign of the Hourglass ließ sich davon inspirieren und entfernt sich endgültig von regulären narrativen Strukturen. Tatsächlich ist das hier so losgelöst von rational erfassbaren Ereignissen, dass es nahezu unmöglich ist, den Inhalt in Worte zu fassen.
Kunstwerk jenseits der Grenzen
Stattdessen ist das eigenwillige Werk ein Kunstwerk, das es zu erleben gilt. Das setzt aber natürlich voraus, dass man eine Vorliebe hat für das Surreale – oder zumindest eine sehr hohe Toleranzgrenze. Nur selten ist in Sanatorium Under the Sign of the Hourglass etwas dabei, das man klar umfassen kann. Die Themen treten zwar schon immer mal wieder in den Vordergrund, gerade natürlich das um den Tod des Vaters. Aber das ist eher ein intuitives Verstehen, weniger eines, das man im Anschluss in Erkenntnisse packen könnte. Man kann dabei natürlich nach Herzenslust interpretieren und die Symbole zu etwas ausarbeiten, zu raten versuchen, was sich hinter den Schichten verbirgt. Man kann es aber auch ebenso gut bleiben lassen und sich von diesem Bewusstseinsstrom mitnehmen lassen.
Der Stop-Motion-Trip, der 2024 in der Independent-Sektion Giornate degli Autori der Filmfestspiele von Venedig Weltpremiere hatte, kreiert mit den Puppen eine unwirkliche, zum Teil auch melancholische Stimmung, die geprägt ist von Verlust. Sanatorium Under the Sign of the Hourglass wird dabei auch immer wieder unheimlich, alptraumhaft, der Weg zum Horrorfilm ist da nicht mehr weit. Das Werk kommt dort aber nie ganz an, auch weil Grenzen hier ohne größere Bedeutung sind. Bei den Quay-Brüdern existiert alles und nichts, ist hier und nirgendwo, während der Zug seine Runden zieht und dabei immer tiefer in das Bewusstsein fährt – oder eben auch nicht.
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